Zwischen Aktivismus und Alltag
In den vergangenen Tagen habe ich, angestoßen durch einige Post bei Social Media, darüber nachgedacht, wie realistisch es ist, dass sich im Bildungssystem in naher Zukunft tatsächlich grundlegende Dinge verändern. So viele Menschen investieren ganz viel Kompetenz, Kreativität und Kraft, um auf die vielen Missstände hinzuweisen und Veränderungen einzufordern. Auch ich merke immer mehr den Impuls, mich zu engagieren und bildungsaktivistisch tätig zu werden.
Gleichzeitig stellt sich mir dabei natürlich die Frage, ob die Zeit, die Ideen, die Kraft, die ich dafür investiere, es tatsächlich wert sind? Wird sich etwas ändern? Wenn ich Interviews mit BildungspolitikerInnen lese oder sehe, dann kommen mir doch große Zweifel. Die ewig selben Floskeln a lá „Wir wissen dass unsere Lehrerinnen und Lehrer großartige Arbeit leisten“, „Wir danken den Kolleginnen und Kollegen für ihr Engagement“ , „Die Lehrerinnen und Lehrer sind kompetent geschult und ausgebildet, um die Herausforderungen meistern zu können“, „Wir haben in unserem Bundesland keinen Lehrermangel, alle Stellen konnten zum Schuljahresbeginn besetzt werden“ und so weiter.
Und dann der Blick in die Realität: Marode Schulgebäude, wachsende Verwaltungsaufgaben, hoher Vertretungsbedarf, Kürzungen in den Stundentafeln und immer größere Klassen. Viele KollegInnen und Schulleitungen gehen auf dem Zahnfleisch und werden im schlimmsten Fall sogar krank. Auf diese Situation treffen dann Aussagen von Bildungswissenschaftlern, die bei der Suche nach Maßnahmen gegen den LehrerInnenmangel so tolle Ideen wie zum Beispiel die Einschränkung der Teilzeitmöglichkeiten mit gleichzeitigen Yogakursen am Nachmittag vorschlagen oder zwar anerkennen, dass der Stress der Lehrkräfte verringert werden müsse, dies aber besser durch Stressbewältigungstrainings gelingen könne, als wenn man die Klassenmesszahlen herabsetzen würde.
Da verwundert es mich dann eben auch nicht mehr, wenn ich bei Social Media von einer Kollegin lese, dass sie bei einer Klassenstärke von 37 (ja, genau diese Zahl nannte sie!) völlig mutlos sei. Sie reagierte damit auf einen Kommentar von mir, in dem ich einen für mich zentralen Grundgedanken erläuterte: Wir bestimmen das System, nicht umgekehrt. Ich kann den Schulalltag für mich und meine SchülerInnen so gestalten, dass unsere Bedürfnisse nicht untergehen. Dabei mache ich vielleicht auch unkonventionelle Dinge.
Aber bei Klassenstärken von 30 und mehr SchülerInnen ist es natürlich nicht einfach bis unmöglich die Bedürfnisse aller im Blick zu behalten und ich kann sehr gut verstehen, dass unter diesen Bedingungen KollegInnen resignieren und einfach nur noch versuchen, selbst einigermaßen gesund durch das Schuljahr zu kommen. Wenn das aber vermehrt passiert, ist Schule bald tot. Und deshalb frage ich mich, wie ich einen guten Weg zwischen Aktivismus und Alltag finden kann:
Die Frage ist, welche Schwerpunkte ich setze. Geht es mir in erster Linie darum, dem Lehrplan gerecht zu werden und auf Teufel komm raus alle Inhalte in rasender Geschwindigkeit durchzuziehen? Ehrlich gesagt spielen die Lehrpläne mittlerweile für mich eine absolut untergeordnete Rolle, was natürlich nicht heißt, dass ich sie völlig außer Acht lasse. Aber, wenn ich will, dass meine SchülerInnen zumindest die Chance haben, wirklich etwas zu lernen, dann braucht es in aller erster Linie Ruhe, Zeit und und eine gute Beziehung. Deshalb habe ich auch kein schlechte Gewissen (mehr), wenn regelmäßig in meinen Fachstunden auch Gespräche oder Dinge stattfinden, die erst einmal nichts mit der momentanen Reihe zu tun haben. Denn was bringt es mir, den SchülerInnen die Funktionsweise der römischen Verfassung zu erklären, wenn sie eigentlich gerade mit ihren Sorgen um die nächste Deutsch-, Mathe- oder Englischarbeit beschäftigt sind?
Für mich sieht der Weg zwischen Aktivismus und Alltag also so aus:
Ich werde weiterhin auf die Missstände im Bildungssystem aufmerksam machen. Gleichzeitig versuche ich im Alltag diese Missstände für meine SchülerInnen, meine KollegInnen und mich so wenig wie möglich zur Belastung werden zu lassen. Und wenn dabei manche vermeintlichen Vorgaben dann eben nicht umgesetzt werden können, dann ist das so. Ich muss nicht über jedes Stöckchen springen, das mir hingehalten wird und kann auf die Sinnlosigkeit dieser Stöckchen an entsprechender Stelle auch aufmerksam machen.
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